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Archive: No_Blog Beiträge

#11 – Sitzt nicht in euren Gelenken! Ein praktisches Experiment

„Sitzt nicht in euren Gelenken!“ – Ich gebe diese vor Jahren im Tanztraining zum ersten Mal gehörte Aufforderung an euch weiter. Ich stand damals da und dachte: „Wie bitte? Was soll ich tun?“ Und beobachtete die Umgebung. Scannte, was die Anderen taten. Meine fein geschulten Sinne konnten erspüren und dann sehen, was gemeint war. Meine Kursteilnehmer, die diese Zeilen lesen, wissen sicher schon, was gemeint ist.

Für alle Neulinge: Heute wird es praktisch. Es wird Experiment, welches manchen gelingen wird, anderen ein wenig oder gar nicht. Da hilft nur, sich immer wieder neu darauf einlassen und versuchen! Oder in einen meiner Kurse zu kommen. Vor Ort sehe ich genau, was passiert und kann unterstützend korrigieren. Auf das es gelingt, das nicht mehr in den Gelenken sitzen.

Jeder von euch erfährt dieses Experiment in seinem Körper, der durch die eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungsmöglichkeiten geprägt ist. So kann es sein, dass jemand z.B. schon vom Feuer gelesen hat. Ein anderer hat bereits Feuer gesehen, der Nächste hat selbst Feuer entzündet und wieder ein anderer hat Feuer gemacht und darauf gekocht. Entsprechend dieser Feuer-Erfahrungen, werden die Reaktionen auf das Wort Feuer sehr unterschiedlich sein. Genauso ist es beim folgenden „Sitzt nicht in euren Gelenken-Experiment“.

Nimm dir bitte ungefähr 15 Minuten Zeit für die Praxis. Beim ersten Mal bist du wahrscheinlich viel schneller. Wenn du Wiederholungstäter bist und schon etliche Male solche Experimente gemacht hast, wirst du dich Fragen: „Warum so schnell?“

Jetzt geht es los! Stell dich locker hin. Wie fühlt sich dein Stehen an? Nicht bewerten. Nicht gut oder schlecht. Wie sind deine Füße auf dem Boden? Wie hat der rechte Fuß Kontakt zum Fußboden? Alle Zehen unten? Stehst du mehr auf der Außenseite des Fußes? Mehr vorn? Oder eher hinten? Sind die Zehen lang und entspannt? Ist der Fuß eher fest oder weich? Gib es eine Stelle, die du besonders merkst?
ACHTUNG: Nicht korrigieren oder verändern, nur wahrnehmen, registrieren, wie er steht, der eine Fuß. Gehe dann mit deiner Wahrnehmung zum anderen Fuß. Wie ist es dort? Beginne wieder mit den Fragen von vorn, vergleiche nicht mit dem anderen Fuß. Was machen hier die Zehen? Kannst du alle fünf auf dem Boden spüren? Wo lastet da Gewicht? Mehr vorn? Innen? In der Mitte? Wie ist das Fußgewölbe hier? Nimm dir Zeit und erforsche es in Ruhe. Ziele nicht auf ein Ergebnis, nimm nur deinen Fuß wahr.

Und nun: Du hast zwei Füße, die sich worin unterscheiden? Worin sind sie gleich? Finde es heraus und traue deiner Wahrnehmung! Sie ist immer richtig. Es ist deine Wahrnehmung für deine Füße. Natürlich können deine Augen etwas anderes Sehen und deine Gedanken sich so ihre Erwartungen vorstellen. Das wäre dann aber nicht deine Wahrnehmung, doch genau die brauchen wir hier!

Wenn du jetzt weiter nach oben gehst: Wie fühlen sich deine Waden an? Erforsche sie einzeln, genau wie die Füße. Nimm dazu die Fragen von oben – oder erfinde deine eigenen! Nimm dir Zeit. Für jede Wade.

Frage dich, wie sich der Übergang vom Fuß in die Wade anfühlt. In beiden Beinen. Nimm dir wieder Zeit dafür.

Gehe anschließend zu den Hüften und erforsche diese. Sind sie gestreckt? Beide? Oder ist eine leicht gebeugt? Wie steht jede Seite über dem Fuß? Über der Wade? Was macht dein Popo? Ist er angespannt? Oder eine Seite locker und die andere hält? Finde es heraus. Nimm dir wieder Zeit dafür.
Wenn du das alles in dir wahrgenommen hast – laufe ein paar Schritte. Wie fühlt sich das jetzt an? Wie immer?

Bleibe dann wieder stehen und stell dir vor, zwischen deinen Zehen wären Froschhäute. Diese spannst du gedanklich auf. Es braucht keine Bewegung. Wirklich nicht.
Kannst du wahrnehmen, was da in dir passierte? Wahrscheinlich noch immer passiert? Du sitzt nicht mehr in den Gelenken. Ein Gefühl von Veränderung zu mehr Leichtigkeit in den Beinen und Hüftgelenken kann eingetreten sein. Nimm es genau wahr. Wie fühlt es sich jetzt an? Genieße es.

Wiederhole die Übung gern immer mal wieder. So oft du magst. Es ist ein innerer Prozess, der sich lebenslang weiter entwickelt. Zunehmend inneren Schwung und Elan bringt.
Wenn du keine innere Veränderung gespürt hast, jedoch neugierig geworden bist: Bleib dran, es wird kommen.

Allein durch die aktive Wahrnehmung unseres Körpers und die Veränderung der inneren Einstellung, kommt viel Leichtigkeit und Fluss in unsere Bewegungen. Wir müssen uns ’nur‘ darauf einlassen.

(c) Grit Silke Thieme

#10 – Science can’t heal a sick society

Wissenschaft kann eine kranke Gesellschaft nicht heilen – diesen Satz habe ich 2015 in einem Pausengespräch des 4. Internationalen Faszienforschungskongress in Washington DC gehört. Er hat mich sehr beeindruckt und beschäftigt mich bis heute. Ist so klar, schlicht und deutlich. Ein Meisterwerk. Mein wichtigstes Mitbringsel von diesem Kongress.

2015 herrschte im Bereich Faszie Goldgräberstimmung, überall war die Faszie in aller Munde. Als Expertin dieses „Materials“ wollte ich genau wissen, was es da so umwerfendes Neues gab. War es eine Modeerscheinung wie Popgymnastik in den 80ern, Zumba in den 90ern? Oder habe ich da wirklich was verpasst? Nichts wie hin, zum Kongress der weltweit besten Forscher.

Vor Ort gab es ein solides, gutes Programm. Es wurde über viele, viele neue Forschungsschwerpunkte im Fachgebiet berichtet, aktuelle Statusberichte und erste praktische Anwendungsmethoden in der Medizin wurden erörtert. OP-Methoden wurden praxisnah vorgestellt, die anatomische Nomenklatur der Faszie dekliniert und festgeschrieben – viel Gewusel, noch mehr wichtige Menschen, ein gut gewählter Kongress-Ort. Für mich genau die richtige Mischung, um weltweite Aufmerksamkeit für das Thema zu erreichen, die über die Fachpresse in jede Universität und medizinische Einrichtung hineinwirkt, in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen die Bevölkerung erreicht, in TV- und Ratgebersendungen ankommt. Das muss man auf die Beine stellen können und wollen. Die Faszie in die Welt bringen, obwohl sie da schon so lange ist, wie es den Menschen gibt. Es war ein Super-Coup, der diesbezüglich voll und ganz gelungen ist!

Was denen, die schon seit Jahrzehnten – um nicht zu sagen Jahrhunderten – mit der Faszie arbeiten auffiel: Alle Forschungsansätze sind sehr um wissenschaftliche Datenanalyse und Brillanz bemüht. Forscher spannen z.B. ein Stück Faszie auf, um dessen elastisches Verhalten zu messen. Finden eine konkrete Zahl für die Faszienelastizität unter dieser konkreten Laborbedingung heraus.
Ja, und? Wohin führt dieses Ergebnis? Zum Nachweis, dass sich Fasziengewebe elastisch verhält? Werden daraus Anwendungen entwickelt, die genau diese Elastizität in einer Faszie eines (jeden) Menschen herstellen können?

Ich verstehe es nicht. Nur, weil ich wissenschaftlich an etwas herangehe, heißt das doch nicht, dass es sich in unserer komplexen Realität genauso verhält und umsetzen lässt. Dieses Erforschen der Welt in kleinsten Details findet heute in vielen, vielen Forschungsgebieten statt. Wir sammeln Wissen über alle möglichen Verhaltensweisen von irgendwas unter bestimmten, wiederholbaren Bedingungen. Mit zunehmenden Datenverarbeitungsmöglichkeiten entstehen immer komplexere wissenschaftliche Modelle, mit mehr Optionen. Aber wohin führen uns diese Optionen?
In meinem o.g. Beispiel führte es zum Bekanntwerden der Faszie. Und ansatzweise dazu, dass deren Beeinflussbarkeit durch Eigen- oder Fremdbehandlungen mehr Aufmerksamkeit erlangte.

Was dabei auf der Strecke bleibt: die nicht in Zahlen erfassbaren Aspekte einer untersuchten Sache, die als lebendiges Element weitere, nicht erfassbare Facetten und Qualitäten hat. Genau wie wir Menschen. Wir sind auch nicht die rationalen Entscheider, als die wir uns oft gern sehen.

→ Eine durch unsere heutigen wissenschaftlichen Möglichkeiten und Methoden abbildbare Welt, ist nicht die reale Welt. Die ist komplexer, bunter, schöner, vielfältiger und vor allem menschlicher. Wenn diese Menschlichkeit durch wissenschaftliche Vorgaben und Nachweise eingeschränkt wird, ist es nicht die Wissenschaft, die uns wieder heilen kann. Lassen wir die Wissenschaft(ler) ihre Erkenntnisse gewinnen. Behalten wir uns vor, unsere eigene Einschätzung zu den Auswirkungen der Forschungsergebnisse in der realen Welt zu haben. Genau das ist Leben.

(C) Grit Silke Thieme

#9 – Zehn Sekunden Betrunken? Ganz ohne Alkohol? Unser Nervensystem – Reset Level

Jede Woche das Gleiche, ich sitze vor meinem Computer und frage mich: Wie über etwas schreiben, was nicht in Kopf und Intellekt passiert – sondern wirklich im Körper? Etwas, mit dem unser Hirn nachdem es passiert ist, eine Weile zu tun haben kann, um zu verstehen, was jetzt mit uns los ist. Alles nur, weil sich Spannungen und Muster der eigenen Körperorganisation binnen einer knappen Stunde gravierend geändert haben? Wie ging das? Was war da los?

Wie kann ich das jenen, die das nicht kennen, es noch nicht erfahren haben, mit Worten verständlich machen? Gar nicht. Punkt. Ich bleibe bei meinen kurzen Geschichten mit Gleichnissen, säe den Samen für erste, neugierige Schritte. Unterhalte die, die es kennen, mit meinen Geschichten als schöne Erinnerungsanker.

Erst gestern, im Jahreskurs Bewegungsforschungskollektiv, sagte eine Teilnehmerin: „Unglaublich, von so paar kleinen Hand- und Armbewegen kommen meine Schultern runter, fällt so viel Spannung von mir ab.“, während sie mit strahlendem Gesicht gechillt durch den Raum schlenderte.

Ganz so schnell und einfach geht es leider nicht. Da gab es vor Jahren schon eine Serie Einzelarbeit. Oft höre ich nach jeder Einheit der Serie die Worte: „Das läuft ja jetzt wieder viel runder und leichter. Aber auch wackliger und schwankend, fast ein wenig wie betrunken.“ Für jene, in der Überschrift erwähnten, zehn Sekunden. Dann hat unser Körper gelernt, mit dem neuen, entspannteren Spannungslevel zurechtzukommen und uns wieder routiniert stehen und gehen zu lassen. Danach ist es nur noch viel beweglicher – die alten Spannungen und Haltemuster haben noch weiter losgelassen. An diese neue Beweglichkeit gewöhnt sich der Körper genauso schnell. Das alte innere Halten ist neuem Bewegungsfluss gewichen.
Nicht wenige Kunden sagen: „Fast ist es so, als müsste ich jetzt nochmal neu laufen lernen.“ Und das mit einer Stimme voller Freude und Elan, die kaum fassen kann, wie das passieren konnte. Und, es geht viel, viel schneller als beim ersten Mal.

Meine Lieblingserklärung für diesen Zustand: Stell dir vor, eine Ampel ist seit Jahren kaputt. Keiner hat es so richtig bemerkt. Sie steht in einer kleinen Nebenstraße, alle kommen auch ohne die Lichtsignale dieser Ampel gut zurecht. In der Zentrale hat auch niemand mehr an die alte Ampel gedacht, Störungsmeldungen kamen, aber es war nie Zeit dafür. Irgendwann hat man es nur noch für einen Fehler in den Dokumenten gehalten und die Ampel aus den Plänen gestrichen.

So ist es in unserem Körper. Tag für Tag falsche Körperhaltungen, zu wenig Bewegung und Überlastung im Körper wirken sich im Nervensystem so aus. Nehmen wir ein Hüftgelenk: Erst beginnt es, ein wenig zu zwicken, dann tut es gelegentlich schon mal weh. Später fängt es an, uns zu nerven, wir fühlen uns eingeschränkt, denken schon über Laufstrecken und deren Abkürzung nach. Worüber wir eher nicht nachdenken: Wann bin ich zuletzt gerannt? Wann habe ich das letzte Mal mein Bein im Hüftgelenk frei schwingen lassen? Wenn die Sensorik diese Bewegungen an Körperstellen nicht mehr verzeichnet, wird unser Nervensystem dort inaktiv. Es wird an dieser Stelle träge, schläft ein, bildet sich zurück. Es sendet dann keine Statussignale mehr in die Steuereinheit – also in die entsprechende Hirnregion. Damit wird der Zugriff auf diese Bewegung willentlich nicht mehr möglich. Wir ‚rosten ein‘, sagt die Umgangssprache.

Oder, wir haben bestimmte Bewegungen als Baby und Kleinkind nie erlenen können oder dürfen. Auch dann ist das in unserem Nervensystem nicht angelegt, ausgeprägt und abrufbar. Jedoch jederzeit unter bestimmten Bedingungen nachlernbar – sofern es eingeübt wird. Ob man noch ein Meister dieser spät erlernten Bewegungen wird, liegt ganz am eigenen Fleiß. Man denke nur an Kinder, die von klein an Surfen, Reiten, Ski fahren lernen. Und an nicht mehr so junge Menschen, die dies erlernen wollen.

Unser Nervensystem kann binnen kurzer Zeit (bewusst auflösender Impuls oder Unfall) völlig andere Informationen aus der Peripherie des Körpers erhalten, als es erwartet hatte. Diese komplett unerwarteten Meldungen brauchen einige Sekunden zur Verarbeitung – wir fühlen uns wie betrunken. Die zentrale Steuereinheit bekommt so die Chance aufs „Reset Level“ zu gehen – und wir dürfen Bewegungen völlig neu lernen.

(C) Grit Silke Thieme

#8 – Sind wir bewegte Hochhäuser?

Natürlich sind wir keine bewegten Hochhäuser. Aber mit diesem Gleichnis lässt sich ein wunderbarer Blick in unsere innere Organisation werden.

In einem fertig gebauten, bewohnten Hochhaus ist ganz schön was los. Denken wir in groben Kategorien, so braucht es: Wasser, Abwasser, Müllschlucker, Fahrstuhl, Fluchttreppen und -wege, Belüftung, Heizung, Strom, Beleuchtung und Telefonie. Das klingt nach vielen Versorgungsschächten, Leitungen und Technikräumen. Erst muss alles an und ins Haus gebracht werden, dann zu jeder Etage, jeder Wohneinheit, jedem Zimmer, jeder Steckdose, jedem Wasserhahn, jedem Abfluss. Stell dir diesen ganzen Prozess einmal vor. Es scheint fast unglaublich.
Jedes Hochhaus ist eine komplexe, gut durchdachte, Meisterleistung – oder?

Wenn dann alle Bewohner nach getaner Arbeit nachhause kommen, Fahrstuhl fahren, kochen, duschen, baden, Wäsche waschen, Unterhaltungselektronik nutzen, putzen, Müll entsorgen, Licht anhaben – da ist richtig was los im Haus, in allen Leitungen!

Stell dir nun vor, in der Wasserversorgung sind ein paar Leitungsabschnitte nicht korrekt verlegt worden und haben sich aus der Verankerung in der Wand eines Versorgungsschachts gelöst. Durch das Eigengewicht und den inneren Druck sind sie mit der Zeit ein wenig aus ihrer Form geraten. Und das nicht ohne Konsequenzen für den Wasserdruck in der Leitung. Lange Zeit merkt noch kein Bewohner eine Veränderung beim Öffnen eines Wasserhahns. Aber stell dir in Eigenregie vor, was alles möglich ist…

Wie wäre es mit zu wenig Druck: Wasser kommt nicht mehr oben an.
Oder mit zu hohem Druck: Leitungen können platzen und kein Wasser kommt mehr oben an – dafür fließt es in E-Technikräume, der Fahrstuhl fällt aus, die Wände werden nass. Du merkst, es kann ein richtiger Action-Thriller werden.

Lass uns noch einen weiteren Schritt gehen: Hast du noch aus dem Biologie-Buch die Abbildungen zu unseren Organen in Erinnerung? Zu den Adern und Venen? Zu unserem Nervensystem? Unseren Muskeln? Unserem Skelett?
Die schematischen Zeichnungen dazu sahen für mich schon immer wie Versorgungssysteme eines Hochhauses aus. Jedes einzelne Versorgungselement in einer anderen Farbe dargestellt. Das Faszinierende daran: Je mehr es ins Detail geht, umso mehr tun sich immer wieder neue, komplexe und sich gegenseitig beeinflussende Strukturen auf.
Als Beispiel dafür nehmen wir nicht wieder den oben erwähnten Wasserdruck, sondern unseren Blutdruck. Durch was auch immer er aus dem Gleichgewicht geraten sein kann, es hat Auswirkungen auf die Adern und Venen an sich, auf den Stoffwechsel, die Atmung, die Bewegungsfähigkeit und, und, und. Schon wieder könnt ihr euch einen Action-Thriller ausmalen. Müsst es aber nicht.

Zu guter Letzt: Ein Hochhaus ist etwas völlig anderes als du und ich. Wir können uns selbst aktiv zu unseren Ver- und Entsorgungssystemen verhalten. Sie reagieren qualitativ auf unsere Art zu leben, passen sich im Guten wie im Schlechten an. Es liegt in unserer eigenen Verantwortung unseren Bauplan zu kennen und zu verstehen.

→ für ein generelles Verständnis der hochkomplexen, in uns ablaufenden Vorgänge: Stell dir ein in sich gut funktionierendes Hochhaus mit all seinen Bewohnern und ihren vielen, gleichzeitig laufenden Aktivitäten vor. Und vielleicht auch, was all die Bewohner dafür tun können, um lange und komfortabel darin zu wohnen.

(C) Grit Silke Thieme

#7 – Unsere Knochen: Tragende Statik oder nur Abstandshalter im System?

Unsere Knochen haben viele Funktionen. Sie leben, bauen sich ständig auf und wieder ab, erledigen dabei ihre vielfältigen Jobs. Normalerweise haben wir 206 Knochen, die dem passiven Bewegungsapparat zugeordnet werden. Die Gelenke zwischen den einzelnen Knochen ermöglichen zusammen mit der Skelettmuskulatur unsere Bewegungen. In der klassischen Bewegungslehre werden Muskelfunktionen und -bewegungen in Beziehung zu den Gelenken gedacht und beschrieben. Ein System sowohl zum Verständnis der möglichen Bewegungen als auch zum Suchen der Fehler, wenn das System nicht rund läuft. So weit zur etablierten, gängigen Betrachtungsweise.

Ich möchte deine Aufmerksamkeit auf eine weitere Möglichkeit lenken: Stell dir vor, du machst einen Ausflug. Hast ein Zelt dabei und beginnst, es aufzubauen. Oder eine Strandmuschel, wenn dir der Gedanke mehr gefällt. Du hast ein faltbares Material und ein Gestänge. Bei Zelten sind noch Abspannseile dabei. Mit dem Gestänge stellst du das faltbare Material dreidimensional auf. Mit den Abspannseilen kannst du dafür sorgen, dass es nicht schief steht oder teilweise in sich einsinkt. Recht simpel, oder? Das Material braucht aber deine Aktivität, um zu einem Zelt oder einer Strandmuschel zu werden. Einfach von selbst passiert das nicht.

Wie wäre es, wenn dies auch in unserem Körper so funktioniert? Warum sollte es nicht? Okay, in deinem Körper wäre es ein in Wasser aufgebautes Zelt. Zumindest im Zelt wäre Wasser, außen die Luft ist zum Glück nicht immer Regen. Wenn wir DIE Faszie, wie letzte Woche im No_Blog Artikel #6 beschrieben, als den gefalteten Stoff und die Knochen in dir als Gestänge ansähen – stellt dir das mal im Kopf vor! Und dann spüre dieser Vorstellung einmal tief in dir nach. Was ist passiert? Wie fühlt es sich an, wenn du gut auf deinen Füßen stehend „dein Zelt“ in dir aufbaust?
Dann gehe in deinen Normal-Modus zurück. Wie fühlt es sich jetzt an? Ist das nicht spannend? Hat sich etwas in dir verändert? Was hat sich verändert? Kannst du es in Worte fassen?

Lass uns noch ein Stück weiter gehen. Ich frage dich: „Was braucht ein klassisches Haus?“
Eine tragende Struktur. Architekt und Statiker sorgen dafür. Gerüst und dann das Füllmaterial – so war es früher beim Fachwerkhaus. Bei moderneren Häusern ist Gerüst und Füllmaterial durch z.B. Stahlbeton in einer Struktur zusammengefasst und man braucht mehr Wissen, um diese komplexere Bauweise zu durchschauen. Lasst uns zu den Wolkenkratzern schauen – zu den richtig, richtig hohen. Die haben die Fähigkeit, in sich zu schwingen bereits eingebaut. Nur so können sie den Winden in der Höhe standhalten. Mit innerer Beweglichkeit. Mit beweglich gelagerten Gegengewichten in sich – die mit der komplexen Struktur des Hauses und der Umgebung des Hauses interagieren.
Ihr merkt schon, wo die Reise hingeht? Nächste Woche geht es weiter.

→ Knochen als tragende Statik ist eine Option. Um Knochen als Abstandshalter im System zu sehen, braucht es einen anderen Blickwinkel. Um seine eigenen Knochen als Abstandshalter zu nutzen, braucht es innere Aktivität.

(C) Grit Silke Thieme

#6 – Die Faszie oder die Faszien? Viel mehr als Grammatik.

Wen interessiert das denn? Die Faszien sind mittlerweile erforscht und bekannt. Bearbeiten kann man Faszienverklebungen mit den Rollen und Kugeln. Zuhause, im Sportstudio, im Yogakurs, in der Reha-Gruppe, beim Physio … überall. Tut weh, soll aber helfen. Oder gibt es da was Neues? Die Faszien wurden ja erst vor 10, 15 Jahren gefunden.

Nein, was Neues gibt es nicht. Eher Altes, Übersehenes, aus dem Fokus und Zusammenhang Geratenes, Vergessenes. In unserer heutigen Zeit kommen Phänomene – wie auch das Thema Faszie eins ist – oft schnell, effizient, ökonomisiert und in großem Maßstab auf den Markt – oder gar nicht. Dabei dreht es sich beim Thema Faszie vordergründig nicht um Markt und Geld, sondern um eine möglichst leichte, entspannte, Funktionsweise unseres Körpers.

Die Faszie gibt es, seitdem wir existieren. Die alten Ägypter, die indischen Yogis, die traditionelle chinesische Heilkunst haben ihr schon immer Bedeutung gegeben. Seit dem 12. Jahrhundert beschäftigen sich europäische Wissenschaftler intensiver mit Anatomie, der wissenschaftlichen Erkenntnis des menschlichen Körpers und anatomischer Lehre. Es begann mit Obduktionen von Verstorbenen. Der Bauplan des Menschen wurde immer klarer offengelegt, erkundet und erforscht. Das gewonnene Wissen ermöglichte das (Weiter-)Entwickeln, Erproben und Verbessern der vorhandenen Therapieformen. Dieser damals begonnene Prozess ist noch heute die Basis der Medizin. Seit jener Zeit explodierte und beschleunigte sich das Wissen, vieles wurde umgebaut, ein hochkomplexer Wolkenkratzerbereich ist auf erneuertem Fundament entstanden.

Bei viel Bautätigkeit gerät manches aus dem Fokus. So sind im „Atlas der Anatomie und Chirurgie“ von J. M. Bourgery und N. H. Jacob aus 19. Jahrhundert noch viele weiß-grau, verschiedenst-schraffierte Strukturen zu sehen. Erst vor dem Schnitt mit dem Skalpell, dann beim Schnitt, im nächsten Bild ihre darunter verborgenen Inhalte freigebend. Moderne Anatomiebücher hingegen zeigen uns meist gleich das Organ, den Muskel ohne die dicke grau-weiße Verpackung.

Aber wieso ist das Verpackungsmaterial verschwunden? Aus den Bildern und unserer Wahrnehmung? Ist es nicht wichtig? So vielfältig wie es gezeichnet wurde? Bei der Menge, die es davon gibt?
Im besten Fall ist dieses Verpackungsmaterial – unser Fasziensystem – ein in sich funktionierendes Zugspannungssystem, wie bei einem Zelt. Mit unseren Körperflüssigkeiten, mindestens 70 % unseres Gewichts, durchflutet, hochsensibel auf Druck, Schwerkraft und Auftrieb reagierend. Viele hundert Taschen und Ausstülpungen besitzend, in denen sich verschiedenste hochkomplexe Bauteile – wie z.B. Organe, Muskeln, Nerven, Blutgefäße, Knochen, Bandscheiben – befinden. Bauteile, die alle von diesem Verpackungsmaterial durchzogen sind. Bis in die letzte Körperzelle.

Dieser Blick auf uns setzt aktive Organsysteme voraus. Die im Sterbeprozess alle nacheinander ihren Dienst quittieren. War und ist vom Fasziensystem bei Obduktionen nur dümpelndes Material zu sehen, spannungslose Masse, die den Blick auf die wesentlichen Inhalte wie Muskeln, Organe und Knochen sowie deren krankhafte Veränderungen, behinderte? Wurde es deshalb so lange vernachlässigt?

Wie auch immer, die Anatomen lernen schnell. Die Wichtigkeit dieses Gewebes ist erkannt. Es gibt seit einigen Jahren die korrekten anatomischen Bezeichnungen für jedes noch so kleine Faszienteilchen im Körper. Es gibt Bücher voller Faszienanatomiefotos, da sind keine Lücken mehr. Die Karte der Faszie liegt ausgebreitet vor uns. Jeder Operateur kennt heute Form und Lage der Faszienanteile der zu operierenden Stelle aufs Genaueste.

Ist das genug? Reicht es, um einem in veränderlicher Flüssigkeit gelagerten, bewegten und sich in sich bewegenden Zugspannungssystem gerecht zu werden? Einen Einwand habe ich: So wie eine linke Herzkammer allein kein Herz schlagen lässt, so wichtig ist es, die linke Herzkammer als Bestandteil des Herzens zu verstehen. Um dann in die Qualitäten, Amplituden, Tempi von Herzschlägen einzusteigen. Stimmt’s? Bei der Faszie ist es ebenso. Auch wenn Sie etliches größer und allumfassender ist, gleichzeitig Organe verpackt, trennt, verbindet, durchzieht, in Flüssigkeit trägt und nebenbei als Sinnesorgan arbeitet.

→ Es gibt nur >eine< Faszie. Die ist überall im Körper. Ist immer dabei. Bei allem, was wir tun. Verspannt, verklebt, verknorpelt, verknöchert oder durchlässig, integriert, aktiv regulierend, Stoffan- und -abtransport ermöglichend. Mit entsprechenden Konsequenzen für oder gegen >einen< leichten, federnden, entspannten Körper.

(C) Grit Silke Thieme