#6 – Die Faszie oder die Faszien? Viel mehr als Grammatik.
Wen interessiert das denn? Die Faszien sind mittlerweile erforscht und bekannt. Bearbeiten kann man Faszienverklebungen mit den Rollen und Kugeln. Zuhause, im Sportstudio, im Yogakurs, in der Reha-Gruppe, beim Physio … überall. Tut weh, soll aber helfen. Oder gibt es da was Neues? Die Faszien wurden ja erst vor 10, 15 Jahren gefunden.
Nein, was Neues gibt es nicht. Eher Altes, Übersehenes, aus dem Fokus und Zusammenhang Geratenes, Vergessenes. In unserer heutigen Zeit kommen Phänomene – wie auch das Thema Faszie eins ist – oft schnell, effizient, ökonomisiert und in großem Maßstab auf den Markt – oder gar nicht. Dabei dreht es sich beim Thema Faszie vordergründig nicht um Markt und Geld, sondern um eine möglichst leichte, entspannte, Funktionsweise unseres Körpers.
Die Faszie gibt es, seitdem wir existieren. Die alten Ägypter, die indischen Yogis, die traditionelle chinesische Heilkunst haben ihr schon immer Bedeutung gegeben. Seit dem 12. Jahrhundert beschäftigen sich europäische Wissenschaftler intensiver mit Anatomie, der wissenschaftlichen Erkenntnis des menschlichen Körpers und anatomischer Lehre. Es begann mit Obduktionen von Verstorbenen. Der Bauplan des Menschen wurde immer klarer offengelegt, erkundet und erforscht. Das gewonnene Wissen ermöglichte das (Weiter-)Entwickeln, Erproben und Verbessern der vorhandenen Therapieformen. Dieser damals begonnene Prozess ist noch heute die Basis der Medizin. Seit jener Zeit explodierte und beschleunigte sich das Wissen, vieles wurde umgebaut, ein hochkomplexer Wolkenkratzerbereich ist auf erneuertem Fundament entstanden.
Bei viel Bautätigkeit gerät manches aus dem Fokus. So sind im „Atlas der Anatomie und Chirurgie“ von J. M. Bourgery und N. H. Jacob aus 19. Jahrhundert noch viele weiß-grau, verschiedenst-schraffierte Strukturen zu sehen. Erst vor dem Schnitt mit dem Skalpell, dann beim Schnitt, im nächsten Bild ihre darunter verborgenen Inhalte freigebend. Moderne Anatomiebücher hingegen zeigen uns meist gleich das Organ, den Muskel ohne die dicke grau-weiße Verpackung.
Aber wieso ist das Verpackungsmaterial verschwunden? Aus den Bildern und unserer Wahrnehmung? Ist es nicht wichtig? So vielfältig wie es gezeichnet wurde? Bei der Menge, die es davon gibt?
Im besten Fall ist dieses Verpackungsmaterial – unser Fasziensystem – ein in sich funktionierendes Zugspannungssystem, wie bei einem Zelt. Mit unseren Körperflüssigkeiten, mindestens 70 % unseres Gewichts, durchflutet, hochsensibel auf Druck, Schwerkraft und Auftrieb reagierend. Viele hundert Taschen und Ausstülpungen besitzend, in denen sich verschiedenste hochkomplexe Bauteile – wie z.B. Organe, Muskeln, Nerven, Blutgefäße, Knochen, Bandscheiben – befinden. Bauteile, die alle von diesem Verpackungsmaterial durchzogen sind. Bis in die letzte Körperzelle.
Dieser Blick auf uns setzt aktive Organsysteme voraus. Die im Sterbeprozess alle nacheinander ihren Dienst quittieren. War und ist vom Fasziensystem bei Obduktionen nur dümpelndes Material zu sehen, spannungslose Masse, die den Blick auf die wesentlichen Inhalte wie Muskeln, Organe und Knochen sowie deren krankhafte Veränderungen, behinderte? Wurde es deshalb so lange vernachlässigt?
Wie auch immer, die Anatomen lernen schnell. Die Wichtigkeit dieses Gewebes ist erkannt. Es gibt seit einigen Jahren die korrekten anatomischen Bezeichnungen für jedes noch so kleine Faszienteilchen im Körper. Es gibt Bücher voller Faszienanatomiefotos, da sind keine Lücken mehr. Die Karte der Faszie liegt ausgebreitet vor uns. Jeder Operateur kennt heute Form und Lage der Faszienanteile der zu operierenden Stelle aufs Genaueste.
Ist das genug? Reicht es, um einem in veränderlicher Flüssigkeit gelagerten, bewegten und sich in sich bewegenden Zugspannungssystem gerecht zu werden? Einen Einwand habe ich: So wie eine linke Herzkammer allein kein Herz schlagen lässt, so wichtig ist es, die linke Herzkammer als Bestandteil des Herzens zu verstehen. Um dann in die Qualitäten, Amplituden, Tempi von Herzschlägen einzusteigen. Stimmt’s? Bei der Faszie ist es ebenso. Auch wenn Sie etliches größer und allumfassender ist, gleichzeitig Organe verpackt, trennt, verbindet, durchzieht, in Flüssigkeit trägt und nebenbei als Sinnesorgan arbeitet.
→ Es gibt nur >eine< Faszie. Die ist überall im Körper. Ist immer dabei. Bei allem, was wir tun. Verspannt, verklebt, verknorpelt, verknöchert oder durchlässig, integriert, aktiv regulierend, Stoffan- und -abtransport ermöglichend. Mit entsprechenden Konsequenzen für oder gegen >einen< leichten, federnden, entspannten Körper.
(C) Grit Silke Thieme