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#10 – Science can’t heal a sick society

Wissenschaft kann eine kranke Gesellschaft nicht heilen – diesen Satz habe ich 2015 in einem Pausengespräch des 4. Internationalen Faszienforschungskongress in Washington DC gehört. Er hat mich sehr beeindruckt und beschäftigt mich bis heute. Ist so klar, schlicht und deutlich. Ein Meisterwerk. Mein wichtigstes Mitbringsel von diesem Kongress.

2015 herrschte im Bereich Faszie Goldgräberstimmung, überall war die Faszie in aller Munde. Als Expertin dieses „Materials“ wollte ich genau wissen, was es da so umwerfendes Neues gab. War es eine Modeerscheinung wie Popgymnastik in den 80ern, Zumba in den 90ern? Oder habe ich da wirklich was verpasst? Nichts wie hin, zum Kongress der weltweit besten Forscher.

Vor Ort gab es ein solides, gutes Programm. Es wurde über viele, viele neue Forschungsschwerpunkte im Fachgebiet berichtet, aktuelle Statusberichte und erste praktische Anwendungsmethoden in der Medizin wurden erörtert. OP-Methoden wurden praxisnah vorgestellt, die anatomische Nomenklatur der Faszie dekliniert und festgeschrieben – viel Gewusel, noch mehr wichtige Menschen, ein gut gewählter Kongress-Ort. Für mich genau die richtige Mischung, um weltweite Aufmerksamkeit für das Thema zu erreichen, die über die Fachpresse in jede Universität und medizinische Einrichtung hineinwirkt, in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen die Bevölkerung erreicht, in TV- und Ratgebersendungen ankommt. Das muss man auf die Beine stellen können und wollen. Die Faszie in die Welt bringen, obwohl sie da schon so lange ist, wie es den Menschen gibt. Es war ein Super-Coup, der diesbezüglich voll und ganz gelungen ist!

Was denen, die schon seit Jahrzehnten – um nicht zu sagen Jahrhunderten – mit der Faszie arbeiten auffiel: Alle Forschungsansätze sind sehr um wissenschaftliche Datenanalyse und Brillanz bemüht. Forscher spannen z.B. ein Stück Faszie auf, um dessen elastisches Verhalten zu messen. Finden eine konkrete Zahl für die Faszienelastizität unter dieser konkreten Laborbedingung heraus.
Ja, und? Wohin führt dieses Ergebnis? Zum Nachweis, dass sich Fasziengewebe elastisch verhält? Werden daraus Anwendungen entwickelt, die genau diese Elastizität in einer Faszie eines (jeden) Menschen herstellen können?

Ich verstehe es nicht. Nur, weil ich wissenschaftlich an etwas herangehe, heißt das doch nicht, dass es sich in unserer komplexen Realität genauso verhält und umsetzen lässt. Dieses Erforschen der Welt in kleinsten Details findet heute in vielen, vielen Forschungsgebieten statt. Wir sammeln Wissen über alle möglichen Verhaltensweisen von irgendwas unter bestimmten, wiederholbaren Bedingungen. Mit zunehmenden Datenverarbeitungsmöglichkeiten entstehen immer komplexere wissenschaftliche Modelle, mit mehr Optionen. Aber wohin führen uns diese Optionen?
In meinem o.g. Beispiel führte es zum Bekanntwerden der Faszie. Und ansatzweise dazu, dass deren Beeinflussbarkeit durch Eigen- oder Fremdbehandlungen mehr Aufmerksamkeit erlangte.

Was dabei auf der Strecke bleibt: die nicht in Zahlen erfassbaren Aspekte einer untersuchten Sache, die als lebendiges Element weitere, nicht erfassbare Facetten und Qualitäten hat. Genau wie wir Menschen. Wir sind auch nicht die rationalen Entscheider, als die wir uns oft gern sehen.

→ Eine durch unsere heutigen wissenschaftlichen Möglichkeiten und Methoden abbildbare Welt, ist nicht die reale Welt. Die ist komplexer, bunter, schöner, vielfältiger und vor allem menschlicher. Wenn diese Menschlichkeit durch wissenschaftliche Vorgaben und Nachweise eingeschränkt wird, ist es nicht die Wissenschaft, die uns wieder heilen kann. Lassen wir die Wissenschaft(ler) ihre Erkenntnisse gewinnen. Behalten wir uns vor, unsere eigene Einschätzung zu den Auswirkungen der Forschungsergebnisse in der realen Welt zu haben. Genau das ist Leben.

(C) Grit Silke Thieme