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#9 – Zehn Sekunden Betrunken? Ganz ohne Alkohol? Unser Nervensystem – Reset Level

Jede Woche das Gleiche, ich sitze vor meinem Computer und frage mich: Wie über etwas schreiben, was nicht in Kopf und Intellekt passiert – sondern wirklich im Körper? Etwas, mit dem unser Hirn nachdem es passiert ist, eine Weile zu tun haben kann, um zu verstehen, was jetzt mit uns los ist. Alles nur, weil sich Spannungen und Muster der eigenen Körperorganisation binnen einer knappen Stunde gravierend geändert haben? Wie ging das? Was war da los?

Wie kann ich das jenen, die das nicht kennen, es noch nicht erfahren haben, mit Worten verständlich machen? Gar nicht. Punkt. Ich bleibe bei meinen kurzen Geschichten mit Gleichnissen, säe den Samen für erste, neugierige Schritte. Unterhalte die, die es kennen, mit meinen Geschichten als schöne Erinnerungsanker.

Erst gestern, im Jahreskurs Bewegungsforschungskollektiv, sagte eine Teilnehmerin: „Unglaublich, von so paar kleinen Hand- und Armbewegen kommen meine Schultern runter, fällt so viel Spannung von mir ab.“, während sie mit strahlendem Gesicht gechillt durch den Raum schlenderte.

Ganz so schnell und einfach geht es leider nicht. Da gab es vor Jahren schon eine Serie Einzelarbeit. Oft höre ich nach jeder Einheit der Serie die Worte: „Das läuft ja jetzt wieder viel runder und leichter. Aber auch wackliger und schwankend, fast ein wenig wie betrunken.“ Für jene, in der Überschrift erwähnten, zehn Sekunden. Dann hat unser Körper gelernt, mit dem neuen, entspannteren Spannungslevel zurechtzukommen und uns wieder routiniert stehen und gehen zu lassen. Danach ist es nur noch viel beweglicher – die alten Spannungen und Haltemuster haben noch weiter losgelassen. An diese neue Beweglichkeit gewöhnt sich der Körper genauso schnell. Das alte innere Halten ist neuem Bewegungsfluss gewichen.
Nicht wenige Kunden sagen: „Fast ist es so, als müsste ich jetzt nochmal neu laufen lernen.“ Und das mit einer Stimme voller Freude und Elan, die kaum fassen kann, wie das passieren konnte. Und, es geht viel, viel schneller als beim ersten Mal.

Meine Lieblingserklärung für diesen Zustand: Stell dir vor, eine Ampel ist seit Jahren kaputt. Keiner hat es so richtig bemerkt. Sie steht in einer kleinen Nebenstraße, alle kommen auch ohne die Lichtsignale dieser Ampel gut zurecht. In der Zentrale hat auch niemand mehr an die alte Ampel gedacht, Störungsmeldungen kamen, aber es war nie Zeit dafür. Irgendwann hat man es nur noch für einen Fehler in den Dokumenten gehalten und die Ampel aus den Plänen gestrichen.

So ist es in unserem Körper. Tag für Tag falsche Körperhaltungen, zu wenig Bewegung und Überlastung im Körper wirken sich im Nervensystem so aus. Nehmen wir ein Hüftgelenk: Erst beginnt es, ein wenig zu zwicken, dann tut es gelegentlich schon mal weh. Später fängt es an, uns zu nerven, wir fühlen uns eingeschränkt, denken schon über Laufstrecken und deren Abkürzung nach. Worüber wir eher nicht nachdenken: Wann bin ich zuletzt gerannt? Wann habe ich das letzte Mal mein Bein im Hüftgelenk frei schwingen lassen? Wenn die Sensorik diese Bewegungen an Körperstellen nicht mehr verzeichnet, wird unser Nervensystem dort inaktiv. Es wird an dieser Stelle träge, schläft ein, bildet sich zurück. Es sendet dann keine Statussignale mehr in die Steuereinheit – also in die entsprechende Hirnregion. Damit wird der Zugriff auf diese Bewegung willentlich nicht mehr möglich. Wir ‚rosten ein‘, sagt die Umgangssprache.

Oder, wir haben bestimmte Bewegungen als Baby und Kleinkind nie erlenen können oder dürfen. Auch dann ist das in unserem Nervensystem nicht angelegt, ausgeprägt und abrufbar. Jedoch jederzeit unter bestimmten Bedingungen nachlernbar – sofern es eingeübt wird. Ob man noch ein Meister dieser spät erlernten Bewegungen wird, liegt ganz am eigenen Fleiß. Man denke nur an Kinder, die von klein an Surfen, Reiten, Ski fahren lernen. Und an nicht mehr so junge Menschen, die dies erlernen wollen.

Unser Nervensystem kann binnen kurzer Zeit (bewusst auflösender Impuls oder Unfall) völlig andere Informationen aus der Peripherie des Körpers erhalten, als es erwartet hatte. Diese komplett unerwarteten Meldungen brauchen einige Sekunden zur Verarbeitung – wir fühlen uns wie betrunken. Die zentrale Steuereinheit bekommt so die Chance aufs „Reset Level“ zu gehen – und wir dürfen Bewegungen völlig neu lernen.

(C) Grit Silke Thieme